Prof. Dieter Grimm über das Verhältnismäßigkeitsprinzip – Gastvortrag am CDIR

Peking, 21. April 2025.

Am 21. April 2025 durfte das Chinesisch-Deutsche Institut für Recht (CDIR) der China University of Political Science and Law (CUPL) einen besonderen Gast begrüßen: Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm LL.M., ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts (1987–1999) und langjähriger Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Grimm gilt als eine der prägenden Persönlichkeiten des deutschen Verfassungsrechts der letzten Jahrzehnte. Neben seiner Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht war er u.a. Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Gastprofessor an der Yale Law School sowie Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien. Seine Arbeiten zum Verfassungsstaat, zur Gewaltenteilung und zur Entwicklung des Rechtsstaats in Europa haben weit über den deutschsprachigen Raum hinaus Beachtung gefunden.

Eingeladen wurde Prof. Grimm vom Direktor des CDIR, Prof. Xie Libin, mit dem ihn eine langjährige persönliche und akademische Freundschaft verbindet. In einer wertschätzenden Einführung begrüßte Prof. Xie den Ehrengast auf Chinesisch und stellte ihn dem gespannten Publikum vor, das sich nicht nur aus CDIR-Studierenden, sondern auch aus zahlreichen Interessierten anderer Fakultäten zusammensetzte. Herr Benesch, Vizedirektor des CDIR, hieß den Vortragenden offiziell in deutscher Sprache willkommen. Um möglichst vielen Anwesenden Zugang zum Vortrag zu ermöglichen, übersetzte Prof. Xie im Anschluss die zentralen Inhalte des auf Deutsch gehaltenen Vortrags ins Chinesische.

Thema des Vortrags war das Verhältnismäßigkeitsprinzip im öffentlichen Recht, ein Kernprinzip des deutschen Verfassungsrechts, das sich – obwohl es im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt wird – frühzeitig als verbindlicher Maßstab der Grundrechtsprüfung etabliert hat. Prof. Grimm stellte die vier Prüfungsschritte der Verhältnismäßigkeit – (1) Legitimität des Zwecks, (2) Geeignetheit, (3) Erforderlichkeit und (4) Angemessenheit – systematisch und anschaulich dar. Trotz seines fortgeschrittenen Alters präsentierte er mit großer Klarheit und Präsenz – und zeigte sich erfreut darüber, wie vertraut viele Studierende der CUPL bereits mit dem Thema waren.

Tatsächlich findet das Verhältnismäßigkeitsprinzip – 比例原则 – auch im chinesischen Recht Anwendung, wenn auch mit eigenen Nuancen. In der anschließenden Fragerunde wurde deutlich, wie groß das Interesse der anwesenden Studierenden und Lehrenden nicht nur am Thema selbst, sondern auch an der Persönlichkeit Prof. Grimms war. Fragen bezogen sich sowohl auf die dogmatische Bedeutung des Prinzips als auch auf konkrete Erfahrungen Grimms als Verfassungsrichter.

Zum Ende der Veranstaltung ergriff Dr. Marco Haase, ehemaliger deutscher Vizedirektor des CDIR und aktueller Programmdirektor der GIZ in Peking, das Wort. In seinem kurzen Schlussbeitrag betonte er, was Prof. Grimm zuvor in seinem Vortrag hatte anklingen lassen: dass die Kombination aus juristischer Systematik und wertender Abwägung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip seine besondere Aussagekraft und Praxisrelevanz verleihe. Diese Verbindung ermögliche nicht nur eine strukturierte Rechtsanwendung, sondern auch eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Eingriffsschwere und Schutzwirkung staatlichen Handelns. In einer persönlichen und zugleich repräsentativen Geste dankte Dr. Haase Prof. Grimm im Namen aller Anwesenden für dessen Bereitschaft, „unserem fernen Institut im fernen China“ mit seiner Anwesenheit und seinem Wissen die Ehre zu erweisen.

Nach dem Vortrag: Deutsche Austauschstudierende im Kontakt mit Prof. Grimm

Ein besonderes Highlight für viele war der informelle Abschluss der Veranstaltung: Zahlreiche Studierende ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, sich eine Signatur von Prof. Grimm – bevorzugt in ihre deutschen Gesetzestexte – zu sichern. Auch Studierende des CDIR kamen in den Genuss eines kurzen persönlichen Austauschs. Der am Institut forschende deutsche Doktorand Herr Rossi, der zur vergleichenden Verfassungsgeschichte arbeitet, nutzte die Gelegenheit, um Prof. Grimm eine spezifische Frage zur deutschen Perspektive auf die chinesische Verfassungsgeschichte zu stellen – ein akademischer Brückenschlag ganz im Sinne des Instituts.